„Die Zahl der seltenen Erkrankungen ist nach oben offen“

Mensch hält Tablettendose in der Hand und schüttet Tabletten aus.
Foto: Towfiqu Barbhuiya/ CCO Unsplash

Oft gleichen die Geschichten einer Odyssee durch das deutsche Gesundheitswesen, die Menschen mit seltenen Erkrankungen hinter sich haben: Besuche bei verschiedensten Fachärzten und Fachärztinnen, Verdachtsdiagnosen, fehlgeschlagene Therapien häufen sich in den Akten der Betroffenen. Die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen, kurz ACHSE, steht sowohl Betroffenen als auch Behandelnden beratend zur Seite.

Frau Dr. Mundlos, wann ist eine Erkrankung eigentlich selten? 

Unsere europäische Definition ist, dass eine Erkrankung selten ist, wenn nicht mehr als fünf von zehntausend Menschen davon betroffen sind. Das wird weltweit allerdings unterschiedlich definiert. Wir gehen derzeit von bis zu 6.000 bis 8.000 seltenen Erkrankungen aus. Aber die Zahl steigt mit immer besserer Diagnostik, gerade in der Humangenetik. Bei etwa 80 Prozent der Betroffenen wird die Erkrankung durch genetische Gründe verursacht. Deswegen ist die Zahl der seltenen Erkrankungen im Grunde nach oben hin offen. 

8.000 Erkrankungen – und das sind nur die seltenen. Ist das für Ärztinnen und Ärzte oft auch eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen? 

Es gibt leider viel zu wenig Experten und Expertinnen für diese Erkrankungen, da es ja bei einigen seltenen Erkrankungen nur eine Handvoll Patientinnen und Patienten weltweit gibt. In Deutschland gibt es an den Unikliniken 35 Zentren für seltene Erkrankungen mit Spezialambulanzen für bestimmte seltene Erkrankungen. Wir decken vermutlich in Deutschland auch nicht jede Erkrankung ab, aber doch einen großen Teil. 

Zur Person

Dr. med. Christine Mundlos ist stellvertretende Geschäftsführerin der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE). Die studierte Medizinerin war lange in der Forschung, gerade auch im Bereich Genetik und Molekulargenetik, tätig. Nach ihrem Master in Wissenschaftsmarketing und Wissenschaftskommunikation übernahm sie die Schnittstelle der ACHSE zu Ärzten, Ärztinnen und Forschung. Als ACHSE-Lotsin steht sie ratsuchenden Ärztinnen und Therapeuten zur Seite. 

Wie viele Menschen sind von einer seltenen Erkrankung betroffen? 

Man sagt, dass in Deutschland etwa vier Millionen Menschen von einer seltenen Erkrankung betroffen sind. Da so viele Erkrankungen genetisch bedingt sind, trifft es natürlich auch viele Kinder. Die Erkrankung beginnt dann schließlich schon im Mutterleib oder kurz nach der Geburt. Es gibt aber auch Erkrankungen, die erst später im Leben auftreten. 

Wie schwer ist es, eine seltene Erkrankung zu diagnostizieren? 

EURORDIS, unsere europäische Dachorganisation, hat vor einigen Jahren in einer Umfrage erhoben, dass es durchschnittlich sieben Jahre dauert, bis Menschen mit seltenen Erkrankungen die richtige Diagnose erhalten. Gerade bei Kindern kann eine Diagnose aber eigentlich schneller gestellt werden, weil sie beim Heranwachsen engmaschiger vom Kinderarzt oder der Kinderärztin betreut werden. In der Regel betreffen solche Erkrankungen auch mehrere Organsysteme und sind oft schwerwiegend. Bei Kindern wird dann schnell auffällig, wenn sie bestimmte Meilensteine der Entwicklung nicht erreicht haben oder sich wieder zurück entwickeln. 

Und was passiert, wenn eine Erkrankung erst später auftritt?  

Das ist etwas ganz Anderes. Im Erwachsenenalter ist es meist so: Man geht wegen bestimmter gesundheitlicher Probleme zum Arzt. Der niedergelassene Hausarzt ordnet die Symptome dann einer Verdachtsdiagnose zu und veranlasst entsprechende Diagnostik. Wird die Verdachtsdiagnose bestätigt, kann therapeutisch eingegriffen werden. Seltene Erkrankungen sind komplex in ihrem Erscheinungsbild, da kommen dann gegebenenfalls mehrere Verdachtsdiagnosen in Frage, es muss unterschiedliche fachärztliche Expertise hinzugezogen werden und man muss eine gute Vorstellung davon haben, wonach eigentlich gesucht wird. Expertinnen und Experten für diese Erkrankungen sind rar gesät, daher suchen die Betroffenen oft viele Ärztinnen und Ärzte auf, bevor sie endlich dorthin gelangen, wo es Erfahrung mit „unklaren Diagnosen“ und eine strukturierte Vorgehensweise zur Abklärung gibt. Das sind die Zentren für Seltene Erkrankungen. Auf dem Weg dorthin erhalten die Betroffenen häufig Fehltherapien und „Psycho“-Diagnosen. Die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen sind für uns aber ein wichtiger Ankerpunkt, weil sie für die Patientinnen und Patienten die erste Anlaufstelle darstellen. Sie sollen jetzt aber keine Experten für Seltene Erkrankungen werden, sondern nur im Hinterkopf haben, dass es diese gibt, dass auch unter ihrem Patientenklientel Menschen davon betroffen sein können, und dass es in der näheren oder weiteren Umgebung ein Zentrum für Seltene Erkrankungen als Ansprechpartner gibt.  

Betroffenen bleibt einfach kein Spielraum für viele Aktivitäten

Dr. Christine Mundlos, stellvertretende Geschäftsführerin ACHSE

Oft fehlt gegenüber Menschen mit seltenen Erkrankungen eine gewisse Akzeptanz in der Gesellschaft. Beispielsweise, wenn mit einer Erkrankung chronische Erschöpfung einhergeht. Dazu wird auf der Website der ACHSE die Löffeltheorie erklärt, die den Betroffenen helfen soll, ihren Angehörigen ihre Situation besser zu erklären. Was steckt dahinter? 

Man kann sich das so vorstellen, die Betroffenen verfügen für jeden Tag nur über einen limitierten Energiespeicher. Durch kleinste, scheinbar banale Handlungen wird dieses Energiedepot stetig aufgebraucht und kann kurzfristig nicht wieder aufgefüllt werden. So müssen sich Patientinnen und Patienten schon morgens ganz genau überlegen: Was mache ich heute? Stellen Sie sich diesen Speicher als Löffel auf einem Tisch vor: So würde der Weg ins Badezimmer schon einen Löffel kosten, das Zähneputzen einen weiteren, für das Bedienen der Kaffeemaschine brauchts auch einen Löffel und so weiter. Bei einer beschränkten Löffelzahl, weil der Körper einfach nicht zur kurzfristigen Regeneration fähig ist, bleibt den Betroffenen einfach kein wirklicher Spielraum für viele Aktivitäten. 

Unter chronischer Erschöpfung leiden auch viele Betroffene von Long-Covid. Damit hat das Chronische Fatique-Syndrom, kurz CFS, bedeutend mehr Aufmerksamkeit bekommen.  

Genau, und das finde ich auch sehr gut. Mit dem Chronic Fatique-Syndrom beschäftigen sich einige wenige, aber sehr Engagierte in der Medizin und Wissenschaft schon lange. Die durch Long Covid erregte neue Aufmerksamkeit ist gut, weil auch aufbauend auf den heute vorhandenen Erkenntnissen zu CFS zukünftig mehr über chronische Erschöpfung geforscht und gelernt werden kann.  

Wo kann ich mich als Patientin denn selbst informieren, wenn ich schon lange auf eine Diagnose warte oder die Diagnose unklar ist? Wohin kann ich mich wenden, um nicht Dr. Google bemühen zu müssen?  

Als Patientin können Sie sich selbst an die Zentren für seltene Erkrankungen wenden oder an die Betroffenen- und Angehörigenberatung der ACHSE. Und, auch wenn uns qualitätsgesicherte Informationen ein wichtiges Anliegen sind, ist Dr. Google für viele Suchende auch die Rettung gewesen, weil sie darüber ihre Diagnose gefunden haben oder eingrenzen konnten. Diese Rückmeldung haben wir aus unserem Netzwerk schon häufiger bekommen. Leider erhalten die Ratsuchenden auch immer wieder Informationen über das Internet, die sie selbst nicht gut einordnen können. So ist die Ausprägung von bestimmten Erkrankungen nicht bei allen Betroffenen gleich, insbesondere Fotos im Netz können da einen falschen Eindruck erwecken. Die krankheitsspezifische Patientenselbsthilfe ist da der richtige Ansprechpartner, um über die Krankheit an sich, den Verlauf und das Leben mit einer Erkrankung zu informieren. Die Betroffenen und ihre Angehörigen werden dort beraten und aufgefangen.  

Selektivvertrag zu seltenen Erkrankungen bis Ende 2024 verlängert  
Seit 01.10.2020 bietet die AOK Nordost ihren Versicherten die Möglichkeit, die besondere Expertise bei der Diagnosestellung einer seltenen Erkrankung in Anspruch zu nehmen. Der bestehende bundesweite Vertrag wurde bis zum 31.12.2024 verlängert. In einem großen Netzwerk ist die klinische Expertise verschiedener Fachrichtungen und Einrichtungen miteinander und mit der wissenschaftlichen Expertise der Humangenetik verbunden. Die Beteiligten nutzen und pflegen gemeinsame Datenbanken. So profitiert die medizinische Versorgung von den wissenschaftlichen Erkenntnissen und andersherum fließen Erkenntnisse aus dem Versorgungsprogramm in die Datenbank zurück und unterstützen somit die Forschung.  Das Projekt hat Schule gemacht: Die AOKs Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz/Saarland, Rheinland/HH, Niedersachsen, Bremen/Bremerhaven, NordWest und PLUS haben sich angeschlossen.

Wie unterstützt die ACHSE Menschen mit seltenen Erkrankungen?  

Es kommt immer darauf an, mit welchen Fragen sich die Ratsuchenden an uns wenden. Wir haben ein großes Netzwerk an Selbsthilfeorganisationen. Hier können wir für die Patientinnen und Patienten Kontakte knüpfen. Auf diesem Weg bekommen sie dann häufig detaillierte Informationen zum Beispiel zu einer speziellen seltenen Erkrankung, zu medizinischen Experten und Therapeuten oder zum aktuellen Forschungsstand. Es kommen aber auch Betroffene zu uns, die ein Problem bei der Beantragung des Grades ihrer Behinderung oder ihrer Pflegestufe haben. Letztlich versuchen wir immer, die Menschen in ihrer Selbstwirksamkeit zu unterstützen, damit sie selbst handlungsfähig werden und Teilhabe erfahren.  

Therapien seltener Erkrankungen sind oft sehr teuer. Zynisch könnte man in diesem Fall fragen: Wie viel Geld ist ein Leben wert? Gibt es für Sie ein Ende des Solidarprinzips?  

Medikamente herzustellen, ist teuer und aufwändig. Damit pharmazeutische Unternehmen auch für kleine Patientengruppen spezielle Medikamente entwickeln, muss es Anreize geben. Und die gibt es seit vielen Jahren auch. Ob die Preise, die dann am Ende aufgerufen werden, auch gerechtfertigt sind, ist für uns schwer zu beurteilen. Denn die Preisverhandlungen werden zwischen den Unternehmen und den Krankenkassen geführt. Wir sind in Deutschland aber in der glücklichen Lage, dass jedes Medikament, das auf europäischer Ebene zugelassen wird, auch bei uns auf den Markt kommt. Uns ist es sehr wichtig, dass dieser privilegierte Zugang uns allen auch in der Zukunft erhalten bleibt – welcher Rahmenbedingungen es dann dazu bedarf, darüber muss sicherlich ein breit aufgesetzter intensiver Austausch geführt werden

 

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